Auf dem rechtsseitigen Ufer des Amudarja, am Rande der Kyzylkum-Wüste, finden wir Koj- Krylgan-Kala, eines der insgesamt 9 Kalas in diesem Gebiet. Doch ist Koj- Krylgan-Kala wohl das rätselhafteste Denkmal der vergangenen choresmischen Zivilisation und es passt zu dieser seltsamen Stätte, dass wir sie erst suchen müssen. Von außen ist nicht viel mehr als ein staubiger Fels zu erkennen, der sich aus einer kargen Steppengraswüste hervorhebt. Die Anlage ist seit ihrer vollständigen Ausgrabung zu einemTeil abermals versandet. Koi-Krylgan-Kala wurde im 4. bis 3. Jh. v. Chr. errichtet und war bis zum 3./4. Jh. n. Chr. besiedelt. Wie bei den meisten Kalas wuchs und veränderte sich die befestigte Stadt im Verlauf der Geschichte ständig.
Bemerkenswert ist das Gebäude im Zentrum der Anlage, das nicht nur als eine heilige Kult-, sondern auch Grabstätte verschiedener choresmischer Könige diente, wie Archäologen aufgrund von aufgefundenen unterirdischen Kammern vermuten. Der Grundriss des Gebäudes, die perfekt abgestimmten Räume im Zentrum, sowie diverse Funde lassen jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass dieser heilige Ort ursprünglich für astronomische Observationen genutzt wurde.
Die Anlage bestand aus zwei nahezu konzentrischen Kreisen und ähnelt in ihrer Konzeption der Arkaim-Festung, die im südlichen Uralgebirge entdeckt wurde. Den Mittelpunkt der Anlage bildete ein rundes, zweistöckiges Gebäude mit einem Durchmesser von 44,4 Metern, um das in einem Abstand von 14,4 Metern eine Befestigungsmauer gezogen war. Von der äußeren Ringmauer ist nicht mehr viel zu sehen, das Gebäude jedoch bis zu seinem bedeutenden inneren Kern im Erdgeschoss erhalten.
Wir begehen die Lehmwände im Zentrum der Anlage, die den Kern in verschiedene Sektoren aufteilen. Der Innenbereich war in zwei Komplexe mit jeweils vier gewölbeartigen Räumen gegliedert. Die gewölbten Decken sind teilweise noch zu erkennen. Oktjabr ruft etwas besorgt, dass an manchen Stellen Einsturzgefahr drohe und will uns lieber beisammen halten. Anschaulich berichtet er, dass die obere Etage einen offenen Platz für Himmelsbeobachtungen enthielt, der äußere Befestigungsring Türme besaß und die gesamte Anlage von einem mächtigen Wassergraben umgeben war.
Dieser Ort übt eine magische Anziehungskraft auf uns aus. Ehrfürchtig betrachten wir eine uralte Sternenwarte, die auf Himmelspositionen ausgerichtet war und vielleicht heute noch mystisches Wissen offenbart! Viele, mit Sicherheit berechtigte Fragen kommen uns in den Sinn: Wissen wir heute wesentlich mehr über den Kosmos als die Astronomen vergangener Zeiten? Ist vielleicht vielmehr altes, wertvolles Wissen verlorengegangen? Liegen in der Synthese von alter und neuer Wissenschaft die Schlüssel zur Vergangenheit und Zukunft der Erde verborgen?
Es gab in der Geschichte der Menschheit Zeiten, da viele Priester Wissenschaftler, Glaube und Wissen kein Widerspruch waren. Auch wenn von der Anlage nicht mehr viel übriggeblieben ist, gibt es hier ausreichend Forschungsmaterial für ein kabbalistisches, astroarchäologisches Studium der nächsten Jahre zu entdecken! Besonders Erika und Lydia sind aufgeregt, in ihnen brennt das Wissenschaftsfieber, ihr Forschergeist glüht und himmlische Zahlen leuchten förmlich in ihren Augen. Während Sina am liebsten auf der Tempelpyramide in Ayaz-Kala sitzen geblieben wäre, um ewig weiterzumeditieren, so wollen die beiden nicht mehr fort von diesem Ort der in Stein geformten "runden" Zahlen.
Bevor wir Koj- Krylgan-Kala verlassen, sprechen wir ein Gebet der Einheit. Wir erinnern uns an die Lehre Zarathustras, von der die uralten historischen Stätten in Karakalpakstan zeugen. Zarathustra wollte die Einheit zwischen den Religionen; er war auf der Suche nach einem gemeinsamen Ziel und zukunftweisenden Weg für alle Menschen.