Gyaur-Kala – die Stadt der Ungläubigen
Wir steigen „davaj davaj“ in unseren „Jeep“, um nach nur wenigen Minuten Fahrzeit schon wieder auszusteigen, denn Gyaur Kala – die Stadt der Ungläubigen liegt sozusagen direkt neben dem altertümlichen asiatischen Friedhof und gehört genau wie er zum Misdakhan-Komplex. Sie befindet sich auf der höchsten Stelle seiner Umgebung, auf dem westlichen Hügel. Übersetzt heißt Gyaur Kala die „Stadt der Ungläubigen.“ Das Wort Gyaur stammt von dem persischen Ausdruck gabr ab, was auch „Feueranbeter“ bedeutet.
Gyaur-Kala � die Stadt der Ungläubigen
Genauso nannten die alten Griechen die Anhänger Zarathrustras aufgrund ihrer intensiven Verehrung des Feuers. Eine Verbindung der Stadt zu der zwischen dem 3. und 7. Jhd n. Chr. vorherrschenden Religion Choresms, dem Zoroastrismus, wird so bereits allein durch ihren Namen sichtbar. Als Folge der Islamisierung und Eroberung durch die Araber im 7./8. Jhd. wurde der Zoroastrismus als favorisierte Glaubensrichtung abgelöst. Der Islam wurde nicht nur zur führenden Religion Choresms, sondern auch zu einer dominierenden kulturellen Kraft in diesem Gebiet.
Gyaur-Kala brannte während verschiedener Invasionen mehrere Male. Eine entscheidende Schlacht im 7./8. Jhd n. Chr oder das spätere Eindringen der Mongolen beispielsweise führten mehrfach zur nahezu vollständigen Zerstörung der Festung. Dabei erinnert die erstere Schlacht durch das grausame Vorgehen der Araber gegen die christlichen Bewohner von Gyaur Kala an das berühmte Massaker von Jerusalem.
Bereits von weitem erkennen wir eine steinerne Sphinx, die uns willkommen heißt und dieses Areal zu bewachen scheint. Wir gehen einen ziemlich steilen Hügel hinauf und suchen nach Relikten längst vergangener Zeiten, die wir in Form von interessant gestalteten Keramiken finden. Welche Ereignisse sind in ihren steinernen Strukturen gespeichert? Welche Geschichten über die Herrscher vergangener Epochen könnten sie uns berichten?
Die besonders auffällige dunklere Färbung des Bodens an vielen Stellen der vermutlich im 4. Jhd v. Chr. erbauten Stadt, weist heute noch sichtbar auf die vergangenen und verheerenden Kämpfe hin. Die dunklen Spuren im hellen Wüstensand hinterlassen auch in unseren Köpfen einen bleibenden Eindruck von den einst grausamen Gefechten vergangener Zeiten. Dazu passen auch die Überreste einer mit Schwarzpulver gefüllten Bombe, deren Alter aller Wahrscheinlichkeit nach auf das 8. Jahrhundert datiert werden kann.
Gyaur-Kala ist eine rechteckige Siedlungsanlage, die auf alle vier Himmelsrichtungen ausgerichtet ist. In ihrem Zentrum befand sich einst das Wasserreservoir der Stadt. Inzwischen stehen wir vor dem Rest eines alten Rohres, das früher mit einem sehr großen Gefäß umbaut gewesen war. Wie Oktyabr uns berichtet, handelte es sich hierbei um das verbindende Element einer Wasserleitungsanlage, die vom Amudarja gespeist wurde. Das fortschrittliche Rohrleitungssystem war für die damalige Zeit einzigartig und wurde streng geheim gehalten. Wir hinterlassen eine Botschaft des Friedens an diesem Ort der Zerstörung und der Unterdrückung des Christentums, indem wir den Heiligen Namen JHWH mit Steinen in den heißen Wüstensand legen und meditieren. Dann verlassen wir die alte Stadt der Ungläubigen auf der anderen Seite der ehemaligen Stadtmauer und suchen uns einen neuen Weg zwischen Stein- und Mauerresten. Auf unserem Rückweg gehen wir noch einmal um das Kala herum und begegnen einer Wüstenpflanze namens Erika. Wir freuen uns über ihre schöne Blüte und es erfolgt automatisch eine Assoziation mit unserer Meditationsgruppe in Deutschland, denn Erika ist auch der Name eines Mitgliedes unserer Gruppe. Die Pflanze ist wie ein Gruß unserer Freunde aus dem Westen, an die wir jetzt liebevoll denken. Etwas geschafft und auch ein bisschen hungrig, lassen wir uns schließlich in die Sitze unseres Bullys fallen. Schließlich treten wir nach dem Besuch der vielen Heiligtümer und der Stadt Gyaur Kala unsere mehrstündige Rückfahrt nach Nukus an.
Oktyabr Dospanov erklärt uns auf der Heimfahrt, dass der Amudarja, die alte Stadt Nukus von der neuen Stadt trennt. Heute führt dieser Fluss, der einst zu der ehemaligen Blüte Choresms beitrug, immer weniger Wasser und trocknet zunehmend stärker aus. Wir sehen auf eine Reihe alter Leuchttürme, die wie bizarre Denkmäler in der Wüste stehen und an die ehemals große Ausdehnung dieses Flusses, sowie des antiken Choresms, erinnern. Heute ist der Amudarja nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein groteskes Bild, das uns die immense Umweltkatastrophe dieses Gebietes direkt vor Augen führt, die unaufhörlich voranzuschreiten droht.
Gegen 17 Uhr sind wir wieder daheim. Genau sieben Stunden waren wir an diesem Tag unterwegs. Was für ein eigenartiger Zufall!!!